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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 03.08.2012


dOCUMENTA 13: So viel Kunst, so wenig Zeit
Katarina Wagner

Die d13 bricht schon zur Halbzeit BesucherInnenrekorde und hüllt ganz Kassel in einen Kunstrausch. Unter den teilnehmenden KünstlerInnen aus aller Welt waren noch nie so viele Frauen. Und diese...




... liefern dazu einige Highlights der d13.

Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev bezeichnet sich selbst als Feministin und dazu Post-Humanistin. Sie fordert "das Wahlrecht für Hunde und Erdbeeren" und plädiert für eine Gesellschaft, die nicht mehr nur den Menschen ins alleinige Zentrum stellt.
Hinter ihrem Konzept verbergen sich Fragen nach dem Verhältnis von Ding und Mensch, wobei die Natur wieder in der Vordergrund gerückt werden soll. Ein großer Teil der ausgestellten Werke beschäftigt sich mit der Zerstörung – von Monumenten, Menschen und Umwelt – andere beschreiben Neuanfänge und fragen nach Alternativen. Die Kuratorin wollte einen "Raum möglicher Heilung" bilden.

Eins ist allerdings klar: die dOCUMENTA 13 wird die Kunstwelt nicht revolutionieren, nicht `endlich wachrütteln` – sie tritt eher ruhig und sehr zugänglich an die Besuchenden heran, zeichnet ein authentisches Bild der heutigen Lebensrealitäten und beschäftigen sich mit kleinen und großen Fragen.

Das kann ganz unterschiedlich aussehen und sehr interaktiv passieren. Im Auepark hat der kanadische Künstler Brian Jungen einen Hundeparkour aufgebaut, wo die Tiere unter anderem auf Nachbildungen von Mies van der Rohes Barcelona-Sessel herumtollen können und so dem Bauhaus-Klassiker, der in keinem edlen Foyer fehlen darf, wieder ein bisschen verspielte Wildheit einzuhauchen.

Das japanische KünstlerInnenpaar Moon Kyungwon & Jeon Joonho interessiert eher, wie sich die Menschen weiter von der Natur-Abhängigkeit lösen können. In der Documenta-Halle stellt ihr Designbüro takram den modifizierten Menschen von Morgen vor – durch umgebaute Organe braucht dieser weniger Wasser zum Überleben. Ein klarer Vorteil in der Klimawandel-Dystopie.

Neben der klassischen Bildenden Kunst gibt es Performances, Musik und Filme zu sehen und sogar physikalische Experimente und psychologische Workshops bietet die Ausstellung. Da kann schon mal die Frage aufkommen, was ist denn jetzt überhaupt Kunst? Alles, was als Kunst deklariert wird? Alles, was als Kunst verkauft wird? Alles, was die Manifestation eines kreativen Geistes darstellt?

Die Antwort zu finden, bleibt jeder und jedem selbst überlassen, sie eindeutig zu beantworten ist nicht nur unmöglich, sondern würde so ziemlich das Gegenteil von Kunst bedeuten – oder?

Wer sich damit nicht zufrieden geben möchte und schon immer mal wissen wollte, was KunstkritikerInnen von den eigenen Werken halten, kann sich drei mal die Woche an Lori Waxman wenden. In ihrem Performance-Projekt 60 wrd/min art critic bietet die US-Amerikanerin einen Einblick in ihren Arbeitsprozess. 25 Minuten lang betrachtet sie die Werke und verfasst dann am Laptop eine Rezension von 100 bis 200 Wörtern – BesucherInnen können alles an einem zweiten Bildschirm mitverfolgen.
Sie verspricht wohlüberlegte Bewertungen, kann allerdings negative Urteile nicht ausschließen. Gut, im schlimmsten Fall kann immer noch nach Rilke behauptet werden, dass Kunstwerke mit nichts so wenig erreichbar seien, als mit Kritik. Nur die Liebe könne sie erfassen und halten und gerecht gegen sie sein.

Bei aller Liebe ist es trotzdem ratsam, sich im Vorfeld ein wenig in das Konzept und die Liste der KünstlerInnen der Ausstellung einzulesen, um den roten Faden zu erkennen, der sich hier und da durch die d13 schlängelt – und um bei so viel Kunst und so wenig Zeit seine Favoriten nicht zu verpassen. Alles zu sehen wird den wenigsten gelingen, Nicht-KasselerInnen sollten es wahrscheinlich gar nicht erst versuchen. Denn Kunst braucht Zeit sich zu entfalten und sollte nicht auf der To-do-Liste abgehakt werden.

Deswegen hier ein kurzer Einblick in die KünstlerInnenliste:

Nalini Malani – In Search of Vanished Blood

In der Documenta-Halle hat die indische Künstlerin ihre beeindruckende Video-Schattenspiel-Installation aufgebaut. In der Mitte des Raumes rotieren wie buddhistische Gebetsmühlen fünf durchsichtige, mit Abbildungen von Hindu-GöttInnen bemalte Zylinder. An die umliegenden Wände werden Videos projiziert, die mit den bewegten Bildern der Hinterglasmalerei verschmelzen und wieder auseinander gehen. Der Raum ist in bunte Farben gehüllt, untermalt mit atmosphärischer Musik. Alles wirkt sehr magisch, wie ein romantisierter Meditationsraum. Dann entfaltet sich das Werk langsam und zeigt seinen Kern: es geht um Gewalt.


Nach der Teilung British Indias musste die Künstlerin von dem muslimisch dominierten Pakistan in das benachbarte Indien fliehen, ein sehr präsentes Thema in ihrem Werk. Im Fokus der Installation für die dOCUMENTA steht die Gewalt die Frauen bei den Grenzkonflikten angetan wurde. Plötzlich wird die Stimmung sehr bedrückend. Klagende Frauenstimmen werden von zerschmetternden Geräuschen unterbrochen. In verzerrter Stimme rezitiert eine Frau Elektras Fluch aus Heiner Müllers Hamletmaschine "...Down with the happiness of submission. Long live hate, rebellion and death."
Außerdem enthält das Werk Verweise auf Christa Wolfs Kassandra, Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laudris Brigge und es sind Ausschnitte aus der Kurzgeschichte Draupadi der indischen Schriftstellerin und Aktivistin Mahasweta Devi zu hören.

Charlotte Salomon – Leben? Oder Theater? Ein Singspiel

Im ersten Stock des Fridericianums sind in Schaukästen einige Malereien aus dem umfangreichen Werk der jüdischen Künstlerin zu sehen. 1943 wurde sie im Alter von 26 Jahren, im fünften Monat schwanger, in Auschwitz ermordet. In den Jahren 1941-1942 verfasste sie in insgesamt beeindruckenden 769 Gouachen-Malereien ihre `Memoiren`.
Charlottes Leben war nicht nur von der ständigen Bedrohung und Verfolgung durch die Nazis geprägt, sondern auch von einem" Hang zur Verzweiflung", der in ihrer Familiengeschichte begründet lag. Die Mutter beging Selbstmord, als Charlotte neun Jahre alt war. 1939 floh die Berlinerin vor den Nazis nach Südfrankreich zu den Großeltern. Dort erfuhr sie, dass auch ihre Tante sich umgebracht hatte. "Mein Leben fing an, als meine Großmutter sich das Leben nehmen wollte – als ich zu wissen bekam, daß ich selbst die einzige Überlebende bin und tief im Innern dieselbe Veranlagung, den Hang zur Verzweiflung und zum Sterben, in mir spürte."

Um nicht in der Depression zu versinken, begann sie auf Anraten ihres Arztes wieder zu malen. Das Singspiel ist im Rahmen von insgesamt 1325 Gouachen entstanden, beginnt im Jahr 1913 mit dem Selbstmord ihrer Tante Charlotte und verarbeitet in konkreten und abstrakten Bildern traumatische Erlebnisse ihres kurzen Lebens. Salomons Biografin Mary Felstiner beschreibt Leben? Oder Theater als eine Arbeit, die "die Lügen überwindet, um zu den Tatsachen zu gelangen, und dann die Tatsachen als Schauspiel inszeniert"

Das Werk ist nicht nur als Zeitdokument interessant, sondern zeichnet Charlotte als bemerkentswerte Künstlerin aus. Sie bewegt sich zwischen expressionistischer Malerei, die nur Primärfarben benutzt, comicartiger Bildgestaltung und Verweisen auf Musikstücke.

Vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in Berlin-Charlottenburg erinnert ein Stolperstein an Charlotte Salomon.

Amy Balkin – Public Smog

Die US-Amerikanische Konzept-Künstlerin hat im ersten Stock des Fridericianums eine Wand mit eingerahmten Briefen bedeckt. Sie stammen aus den Korrespondenzen mit 186 UNESCO-Ländern in sechs verschiedenen Sprachen. 2004 startete Amy Balkin ihre umfangreiche Aktion Public Smog indem sie auf einem Treibhausgasemissionsmarkt die Rechte für den Ausstoß von elf Kilogramm Stickoxide kaufte - diese aber nicht wahrnahm und damit einen Park sauberer Luft schaffte. Für dessen Erhalt möchte sie die Atmosphäre als Weltkulturerbe eintragen lassen.


Im Rahmen ihres Langzeit-Projekts Public Smog bittet die Konzeptaktivistin um Unterstützung für die Eintragung der Erdatmosphäre als UNESCO-Welterbe. Im Auftrag des ehemaligen Umweltministers Norbert Röttgen heißt es:
"Nach ausführlicher Prüfung und Beratung mit dem für die Welterbekonvention zuständigen Auswärtigen Amt muss ich Ihnen aber leider mitteilen, dass eine Unterstützung seitens des Bundesumweltministeriums nicht möglich ist."

Zanele Muholi – Fotos aus der Serie Faces and Phases

Die südafrikanische Fotografin, Performance- und Videokünstlerin stellt in der Neuen Galerie Schwarz-Weiß-Portraits von queeren Identitäten aus ihrem Heimatland aus. Dort begegnen Homosexuelle und Transgender-Menschen ständig Diskriminierung und werden Opfer von Hass-Verbrechen. So möchte Muholi sie jedoch nicht darstellen, vielmehr zeigt sie Fotos von selbstbewussten Menschen, vor allem schwarze Lesben und Transgender-Individuen, die keine homogene Gruppe bilden, sondern der vielseitigen Gemeinde unterschiedliche Gesichter geben.



"Ich machte mich auf die Reise als bildende Aktivistin, um sicherzustellen, dass schwarze Lesben und Transmenschen sichtbar sein würde, um auszustellen, dass es uns gibt und dass wir in dieser demokratischen Gesellschaft Widerstand leisten, um positive Bilder von schwarzen Lesben zu zeigen." - Zanele Muholi

Ida Applebroog:

Die US-Amerikanische Malerin hat für die d(13) persönliche Unterlagen aus ihrem eigenen Archiv herausgeholt. Es sind Skizzen, handschriftliche Gedichte und Notizen, die nicht nur an den Wänden ausgestellt werden, sondern auch zum Mitnehmen in Posterform ausliegen. Zusammen bieten sie eher zusammenhanglos, aber sehr spannend und oft tragikomisch einen Einblick in ihr Leben.



AVIVA-Tipp: Die dreizehnte documenta erschlägt eineN fast mit ihrem Überangebot an Kunst, bleibt aber im Einzelnen eher brav und ruhig. Empfehlenswert ist es, sich vor dem Besuch einen groben Überblick zu verschaffen, damit mensch die Ausstellung dann auch wirklich genießen kann – die ausgestellten Werke sind nämlich überaus sehenswert.

Zur Geschichte der documenta:

Die documenta in Kassel gehört zu den weltweit wichtigsten Ausstellungen für Gegenwarts-Kunst. Alle fünf Jahre findet sie für 100 Tage statt. 1955 wurde die erste documenta, damals noch als Ergänzung zur Bundesgartenschau, eröffnet. Der Initiator war der Kunstprofessor und Designer Arnold Bode. Nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft sollte die Moderne Kunst wieder nach Deutschland zurück kehren. Bode legte den Fokus auf diejenigen KünstlerInnen, deren Werke unter den Nazis als "Entartete" verfolgt wurden, vor allem die abstrakte Malerei und Kunst Zwanziger und Dreißiger stellte er aus. Der Name "documenta" bezieht sich also auf den dokumentarischen Ansatz der ersten Ausstellung und hat sich bis heute gehalten.
1959 setzte Bode den Schwerpunkt der documenta 2 auf die zeitgenössische Kunst. Das Museum of Modern Art schickte etwa 100 Werke nach Kassel, wo nun auch Grafiken gezeigt wurden und sich Bode als innovativer Kurator etablierte.
Als wegweisend gilt die documenta 5 (1972), die erstmal auch massenmediale Kunst (Werbung, Comics, Science-Fiction) einbezog. Die folgende documenta 6 (1977) sorgte für Aufregung, weil erstmals zeitgenössische KünstlerInnen aus der DDR ausgestellt wurden.
1982 startete der `Dauergast` der documenta, Joseph Beuys, bei der siebten Ausstellung sein langzeit Projekt 7000 Eichen, bei dem in den nächsten fünf Jahren in Kassel 7000 Bäume gepflanzt werden sollten.
Mit fast jeder documenta hat die Stadt Kassel ständige Außenkunstwerke dazugewonnen. Die BesucherInnenzahlen steigen beständig. Die d13 konnte schon zur Halbzeit mit mehr als 10.000 verkauften Dauerkarten einen neuen Rekord melden.

dOCUMENTA (13)
9. Juni bis 16. September 2012
Öffnungszeiten: täglich 10-20 Uhr
1-Tageskarte: 20 Euro, ermäßigt 14 Euro
2-Tageskarte: 35 Euro, ermäßigt 25 Euro
Abendkarte ab 17 Uhr: 10 Euro, ermäßigt 7 Euro
Dauerkarte: 100 Euro, ermäßigt 70 Euro

Weitere Infos unter:

d13.documenta.de

Informationen zur Barrierefreiheit finden Sie auf den Seiten der BesucherInnen-Information

Interview mit der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev in der Süddeutschen Zeitung

Nalini Malani:

Interview des art-Magazins mit Nalini Malani zu "In Search of Vanished Blood”

www.nalinimalani.com

Nalini Malani, d13

Charlotte Salomon:

Charlotte Salomon bei FemBio mit Bildern

Begleittext zur Sonderausstellung "Charlotte Salomon. Leben? oder Theater?" 2007 im Jüdischen Museum Berlin

Charlotte Salomon, d13

Amy Balkin:

www.publicsmog.org

www.thisisthepublicdomain.org

Amy Balkin, d13

Zanele Muholi:

Zanele Muholi, d13

www.zanelemuholi.com

Ida Applebroog:

Ida Applebroog, d13

idaapplebroog.com


© Photos: Katarina Wagner


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Beitrag vom 03.08.2012

AVIVA-Redaktion